Wiener Geschichten - Leopold Museum Blog

Avantgardisten

in der Stadt der Musik

Schönberg und Gerstl

Tumult im Musikverein! Herren in gutem Tuch gehen einander verbal an die Kehlen! Ein Hauen und Stechen – in übertragenem Sinn. Mittendrin ein musikbegeisterter junger Maler, der sich wort- und stimmgewaltig einbringt: Richard Gerstl ergreift Partei für einen der unversöhnlichen Reformer der Musik – er macht Arnold Schönberg die Mauer. Die Uraufführungen von Schönbergs ersten Streichquartetten und der Kammersymphonie (op. 9) in den Jahren 1907/08 haben letztlich zweimal für Skandale gesorgt.

Wie kann es sein, dass sich in den ehrwürdigen Hallen des Musikvereins die Wut über ein Konzert derartig entzündet und dass sich kultivierte Vertreter der Wiener Bourgeoisie an die Kehle gehen ob der Frage, welche Klanggebäude in der modernen Musik denn akzeptabel seien?

Wien, die Stadt der Musik! Im Vielvölkerstaat der Donaumonarchie wird die Sprache, die alle mit dem Herzen verstehen können, gebührend gepflegt: Das erste Gebäude, das vom Kaiserhaus an der neu entstehenden Wiener Ringstraße in Auftrag gegeben wird, ist die Hofoper. Was für ein Zeichen! Die Beschäftigung mit Musik gehört zum guten Ton. Wer auf sich hält, lässt sich in seinem repräsentativen Stadtpalais oder in der Villa am Rande der Metropole, in einem der noblen „Cottages“, einen Musiksalon einrichten.

Der aus großbürgerlichen Verhältnissen stammende Richard Gerstl kann es sich leisten, zwei Ateliers anzumieten. Im einen malt er, im anderen beschäftigt er sich mit Musiktheorie, Soziologie und Philosophie. Der hochgebildete junge Mann wird von einer Wiener Tageszeitung als Musikkritiker angeworben. Er lehnt ab. Für Derartiges hat er keine Zeit. Außerdem verspürt er keinen Druck, Geld zu verdienen.

Der Wunsch, gemeinsam mit seiner Ehefrau Mathilde, Schwester des Komponisten Alexander von Zemlinsky, Malunterricht zu nehmen, führt Arnold Schönberg in das Atelier eines jungen Malers, mit dem sich Richard Gerstl zeitweilig die Räume teilt. Von Gerstls großformatigem expressivem Porträt der Schwestern Pauline und Karoline Fey ist der Komponist dermaßen beeindruckt, dass er beschließt, den Urheber, Gerstl, kennenzulernen und ihn als Mallehrer zu engagieren.

Zwei radikale Erneuerer, zwei extreme Charaktere finden sich und gehen eine Vater-Sohn-Freundschaft ein. Selbst die Sommerfrischeaufenthalte in Gmunden am Traunsee werden Gerstl und die Familie Schönberg gemeinsam verbringen. Mit von der Partie:  ein erlesener Kreis von Verehrern und Adepten des Begründers der Zwölftonmusik. Die gestisch auf die Leinwand gebannten Porträts des Ehepaares Arnold und Mathilde Schönberg sind an Modernität kaum zu überbieten: gleißendes Licht des Hochsommers, zerfließende Gesichter, konturlose Körper, gleichsam entmaterialisierte Personen. Der pastose Farbauftrag zeitigt eine atmosphärische wie auch energetische Bildwirkung.

Einige Jahre später, am 31. März 1913, wird im Musikverein mit dem legendären „Watschenkonzert“ neuerlich ein veritabler Wirbel des Wiener Musiklebens über die Bühne gehen. Arnold Schönberg hat den Schritt in die Atonalität vollzogen. Nun prügeln sich die Vertreter der Wiener Intelligenz wortwörtlich und werfen die Kruste zivilisatorischen Anstands über Bord, um ihren persönlichen Überzeugungen Ausdruck zu verleihen.

Da ist der junge Maler Richard Gerstl bereits seit fünf Jahren nicht mehr unter den Lebenden. Sein tragischer Suizid mit 25 Jahren am 4. November 1908 wird nicht nur die Wiener Gesellschaft erschüttern. Dieser steht mit Arnold Schönberg und vor allem mit dessen Ehefrau Mathilde in kausalem Zusammenhang: Schönberg ertappt seine Ehefrau und Richard Gerstl während der Sommerfrische am Traunsee „in flagranti“ – er dürfte einer der Letzten gewesen sein, die von dieser intensiven Liebesbeziehung erfuhren. Was folgt, ist tragisch: Richard Gerstl verliert letztlich nicht nur seine Geliebte, die schlussendlich der Kinder wegen zu ihrem Ehemann zurückkehren wird, sondern er wird förmlich aus dem Schönbergkreis ausgestoßen. Gesellschaftliche Ächtung und Isolation lassen den Hochsensiblen mit einer von der Norm abweichenden psychischen Disposition zerbrechen.

 

Beitrag von Markus Hübl

Richard Gerstl, Paar im Grünen, 1908Richard Gerstl, Paar im Grünen, 1908 © Leopold Museum, Wien, Inv. 645

Richard Gerstl (1883–1908) widmete sich im Sommer 1908 am Traunsee intensiv der Freilichtmalerei, neben rein landschaftlichen Motiven entstand auch dieses Paarbildnis. Die Identität des Paares bleibt unbekannt, auch wenn ungesicherte Vermutungen hinsichtlich der Frau auf Mathilde Schönberg (1877–1923) verweisen, mit der der junge Maler ein heimliches Liebesverhältnis unterhielt. Bei der männlichen Figur könnte es sich um Alexander von Zemlinsky (1871–1942) handeln, den Bruder von Mathilde Schönberg, der als Dirigent und Komponist Bekanntheit erlangte. Die beiden Dargestellten blicken direkt aus dem Bild heraus, treten uns repräsentativ entgegen. Ihre Gesichtszüge sind jedoch nur schemenhaft angedeutet. Verschattete Zonen, kürzelhafte Pinselstriche stehen für Augen, Nase, Mund. Die Hände der Dame sind eine amorphe Farbmasse, die sich nach unten verteilt. Entgegen der akademischen Tradition verlässt Gerstl das Abbildhafte und Realistische, vielmehr steht seine Malweise im Vordergrund. Seine Pinselschrift ist breit, ausladend, energisch und spontan. So erstrahlen im Hintergrund frische Grüntöne von Wiese, Hecke und Obstgarten, doch eine genaue Formgebung ist nicht vorhanden.